Ohne Worte - Teil III
30. März, 10.00 Uhr: Noch zwei Stunden. Ich erreiche gerade die Zentralbibliothek. Ich lege meine Sachen im Spind ab, springe die Treppe hoch, schmeiße mich schwungvoll gegen die Glastür und gleite so zartfüßig, wie es nach der Verspachtelung einer Packung Prinzenrolle noch möglich ist, durch den Lesesaal. Obwohl ich kurz überlegen muss, welche Zahl gleich nochmal vor vier kommt, finde ich die Signatur, notiere die Seitenzahl meines Zitats und powerwalke zurück zu meinem Spind. Dabei schaffe ich es sogar noch, Horst-Rainer (Name v.d. Red. geändert) auszuweichen, dem ich jedes Mal, wenn ich ihn in der Bibliothek treffe, erkläre, dass ich ihm dummerweise meine Handynummer nicht geben kann, weil ich sie dummerweise nicht auswendig weiß und das Handy dummerweise nicht zur Hand habe, um nachzusehen. Durch-die-Blume-Aussagen zu verstehen ist aber offenbar nicht so Horst-Rainers Ding. Jedenfalls packe ich eilig mein Zeug aus dem Spind und mache mich auf zur Teilbibliothek Romanistik.
30. März, 10.30 Uhr: Mäppchen, Handy, Geldbeutel und USB-Stick fächerartig zwischen die Finger geklemmt stürme ich die Teilbibliothek, okkupiere sofort einen der wenigen PC-Arbeitsplätze und stolpere nun hektisch und nach 27 Stunden ohne Schlaf auch etwas unkoordiniert durch die Gänge, finde aber alles, was ich brauche und mache mich daran, meine Arbeit abzuschließen. Alles wird gut. Ich muss nur eins mit der Tastatur werden. Ich muss die Tastatur sein.
30. März, 11.40 Uhr: ...speichern...und los....
30. März, 11.42 Uhr:
Diewendeltreppehochnachlinksdenganglangnachlinksdurchdietürnachlinks
(I wish I was a hunter in search of different food)*
(I wish I was a hunter in search of different food)*
denganglangdurchdieglastürnachrechtsdietreppehochdurchdieeingangstür
(I wish I was the animal which fits into that mood)*
nachdraußenschrägnachlinksdietreppehochüberdenzebrastreifendietreppezur
(I wish I was a person wirh unlimited breath)*
bibliothekhochdurchdieeingangstürnachlinksdurchsfoyeraneinenarbeitsplatz
(I wish I was a heartbeat that never comes to rest)*
30. März, 11.47 Uhr: Nervös beobachte ich, wie der Drucker mein Opus ausspuckt. Hoffen wir, dass Horst-Rainer jetzt nicht auftaucht. Falls doch, würde ich ihm durch die Blume sagen müssen, dass ich als kleines Mädchen zu fett für's Ballett war. Na endlich. Die letzte Seite ist ausgedruckt. Lochen...einheften...und weiter...
30. März, 11.55 Uhr:
Durchsfoyerrechtsdurchdietürnachdraußendietrepperunterüberdenzebra
(I wish I was a stranger who wanders down the sky)*
(I wish I was a stranger who wanders down the sky)*
streifendietrepperunterzurphilosophieschrägnachrechtsdurchdieeingangstürdie
(I wish I was starship in silence flying by)*
(I wish I was starship in silence flying by)*
trepperunternachlinksdurchdieglastürnachrechtsdenganglangnachrechtsdurch
(I wish I was a princess with armies at her hand)*
dietürnachlinksdenganglanglinksdietreppehochlinksdenganglangnachrechts...
(I wish I was a ruler who'd make them understand)*
30. März, 11.59 Uhr: Proustend renne ich auf das Sekretariat zu, die Arbeit in der Hand, bereit, mich mit einem dramatischen 'neeeeeeeein' zwischen die sich schließende Tür und den Türrahmen zu werfen, da sehe ich, wie die Sekretärin zusammen mit der Hälfte der SpraWi-Crew ein illustres Kaffeekränzchen abhält. Und es sieht nicht so aus, als würde dieses in den nächsten 30 Sekunden beendet werden. Da sitzen sie alle ganz entspannt mit ihren Biedermeier-Kaffeetässchen und -Kuchentellerchen, die intellektuellen Beine übereinander geschlagen und schauen mich an, als wäre ich ein vorbei fliegendes Raumschiff. Da ich jedoch kurz vor einer Nahtoderfahrung stehe, habe ich sowieso nicht mehr genug Energie, um mich darüber aufzuregen, dass das Sekretariat nicht pünktlich schließt, obwohl ich einen Haufen Studiengebühren zahle, sodass ich einfach versuche, der Sekretärin durch wilde, grobmotorische Fuchtelei mit der Mappe verständlich zu machen, dass ich gerne meine Hausarbeit für Frau Prof. Dr. phil Hedwig Lüdenscheidt-Kowalski abgeben würde. Offenbar versteht sie meine nonverbale Botschaft, denn noch kauend greift sie sofort nach der Mappe und legt sie behende auf einen Stapel weiterer Arbeiten, um das Verspeisen ihres Kuchens nicht allzu lange unterbrechen zu müssen. Also will ich auch nicht weiter stören, empfehle mich mit einem kurzen Nicken in die Runde und verlasse das Lokal nachdem ich meine Arbeit endlich los geworden bin.
30. März, 12.30 Uhr: 25 Stunden, mehrere Kilo Zucker und 2 Fingerkrämpfe später sitze ich mit Augenringen im Waschbär-Look und stylischer out-of-bed-Frisur im Bus und starre teilnahmslos vor mich hin. Könnte gut sein, dass die anderen Fahrgäste mich für dieses Mädchen halten, das in einem Brunnen wohnt und immer aus dem Fernseher krabbelt. Das war's. Es ist vorbei. Was für eine Nacht. Aber ich habe es geschafft, ich bin's halt einfach. Und wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich meinem imaginären Haarbürsten-Karaoke-Konzert-Publikum unbedingt noch die Zugabe geben, zu der ich letzte Nacht nicht mehr gekommen bin: Good morning staaaarshiiine, the earth says helloooo...*²
FIN
* D., Thomas/Potente, Franka: „Wish (Komm zu mir)“. In: Music, Sony (Hrsg): Lola rennt [Soundtrack]. München 1998
*² Rado, James/Ragni, Gerome: „Good Morning, Starshine“. In: MacDermot, Galt/Rado, James/Ragni, Gerome: Hair. New York 1968.